Zitat eines halben Jahrhunderts
Scheidewege
„Überkommenes wird in unserem Denken im gleichen Maße fragwürdig wie Fortschrittsgläubigkeit.
Das Gestern ist nicht zu wiederholen, aber das Morgen kann auch nicht einfach eine verbesserte Form des Heute sein. In der Tradition zu retirieren ist so aussichtslos wie die Hoffnung, daß dem Fortschritt, so wie er derzeit betrieben wird, ein zweckmäßiger Mechanismus der Selbstregulation innewohne, der endlich alles zum Guten wenden werde.
In dieser Situation gibt es niemanden, der für sich in Anspruch nehmen dürfte,
Gebrauchsanweisungen geben zu können; die gleichwohl im Umlauf befindlichen, die das Heil
in der Programmierung und Planung suchen, müssen skeptisch geprüft und ihre Fehler müssen benannt werden. Skeptisches Denken ist auf jene gerichtet, die glauben, den Code des Lebens
und des Zusammenlebens entschlüsselt zu haben und daraus schnellfertig die Verfahren Ihres
Handelns ableiten zu können. Skeptisches Denken erbringt Einwände und Einsichten, die nicht immer Weg und Ziel, aber doch eine Richtung anzeigen.
Die Prüfung kann überall ansetzen: Dort, wo das Denken als Philosophie betrieben wird, und dort, wo es formuliert oder nicht, einem Handeln zugrunde liegt – in der Naturwissenschaft und in der Technik, in der Anthropologie und in der Pädagogik, in der Politik und Soziologie-, kein Bereich, in dem nicht ältere oder brandneue Gebrauchsanweisungen gültig wären, die der Prüfung bedürfen.
Diese Aufgabe haben sich die „Scheidewege“ gestellt. Die Vielfalt der möglichen Themen, in denen kein Bereich des Lebens ausgespart sein kann, hat ebensolche Vielfalt der Form zu Folge: sie reicht vom Essay bis zur Polemik, von der Beschreibung bis zur Mahnung, von der Rezension bis zum Bekenntnis – das heißt: von der Meditation bis zum Kampf.“
Seit 43 Jahren unverändertes Leitwort der „Scheidewege, Jahresschrift für skeptisches Denken“